dagmar weiss

DER BESUCH

Jetlag. Die Stadt ist hellgrau und zäh, die Feuchtigkeit hängt irgendwie bleiern in der Luft und hindert die Sonnenstrahlen einen warmen Schein zu werfen. Ihr kaltes, milchiges licht betont die Härte der eckigen Betonbauten, der Kabelmasten und des nassen Asphalts. Es ist schwierig bis unmöglich einen Ort zum ausruhen zu finden. Unentschlossenheit und Ansätze von Plänen. Der Kaffee ist wässrig und das Café scheinbar überhaupt nicht beheizt. Trotzdem teuer. Ich habe die ganze Zeit ein starkes Bedürfnis irgendwo meinen Kopf anzulehnen. Wo bin ich hier, und in wessen Welt.

Er sagt:
Was uns verbindet, ist unser beider ständiger Versuch uns selbst herauszufordern.

Vielleicht hat er recht. Wir treiben uns, schubsen uns selber immer weiter. Oder sind wir getriebene? Bloß nicht jemals stehenbleiben. Und gemeinsam, gemeinsam bestärken wir uns darin noch, stacheln uns gegenseitig an.
Aber nicht im Sinne einer Konkurrenz, im Gegenteil, wir sind Verbündete gegen den Rest.
Die Bahn ist überfüllt, wir hängen an den Haltegriffen, die zu hoch montiert sind. Eingekeilt inmitten anderer, im Rhythmus der Bahn schwankender Körper. Zwischen den teilnahmslosen, fremden Gesichtern schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht, ich beuge mich zu ihm herüber und flüstere: und natürlich werden wir gewinnen! in sein Ohr.

Man sollte sich die Tempel anschauen. Oder Eintritt bezahlen um die Affen füttern zu dürfen. Der vielversprechende Weg am unglaublich grünen Fluß entlang hört vor einem Tor zu einem weiteren kleinen Tempel einfach auf. Etwas verloren streunen wir eine Weile über einen in dieser Jahreszeit vollkommen verlassenen Strand. Und dann ist da plötzlich dieser Pfad. Die steile Flußböschung unterhalb von ein paar kleinen Häusern entlang. Wir schauen uns kurz an und ich gehe los.

Es gibt bestimmte Kombinationen von Menschen, die bestimmte Situationen erst möglich machen. Ich weiß, dass ich mit kaum jemand anderem hierher gelangt wäre. Was ist das für ein Pfad? Gehört er zu den Häusern? Ist es erlaubt ihn zu gehen? Und wohin soll er denn überhaupt führen? Ein winziges Zögern, eine kurze Unentschlossenheit, Zweifel des Anderen hätten mich schon abhalten können. Aber die bloße Existenz des Pfades schreit danach ihm zu folgen. Also gehen wir. Was sonst.

Er sagt:
Ich habe immer ein Problem mit so Leuten die so gut ohne mich klarkommen. Ich denke dann, die brauchen mich ja gar nicht, ich kann denen gar nichts geben.

Die Frage hängt in der Luft. Ich brauche sie gar nicht zu stellen.

Er sagt:
Dass du mich brauchst war schon immer, von Anfang an, offensichtlich.
Ich bin schockiert und stumm.

Der Weg hat schon lange aufgehört, aber umzukehren ist keine Option. Dort hinten an der Flußbiegung sieht es so aus als gäbe es vielleicht die Möglichkeit zur Überquerung, von einem Stein zum nächsten springen. Wir wissen, das ist vollkommen illusorisch, aber aufgeben geht nicht, und zumindest muß ich sehen, wie es hinter der Biegung weitergeht. Die Berge beiderseits rücken schon seit einer Weile bestetig näher zusammen, der anfangs ruhige, spiegelglatte Fluß rauscht nun schnell und tief zwischen Steinbrocken und die beginnende Dämmerung zieht verstohlen die Farbigkeit aus der Landschaft.
Eine Weile nimmt die rutschige Böschung unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Seltsamer Weise liegen überall Muscheln und Porzellanscherben, als hätte sie jemand von weit oberhalb heruntergeworfen.
Und dann, als ich wieder aufschaue, sehe ich sie in der Ferne, die Brücke. Bestimmt 40, 50 Meter über dem Fluß spannt sie sich vom einen Tunnel zum anderen. Unverkennbarer Triumph in seinen Augen.
Einen Moment stehen wir einfach nur da und schauen zu wie ein Zug hinüber rast, Lichter flackern einen Moment lang über dem Wasser um sofort wieder vom gegenüber liegenden Berg verschluckt zu werden.

Ich höre unsere Schritte auf der eisernen Brücke hallen, ich höre meinen Atem, stoßweise, beim rennen.

Es ist kalt im winzigen Bad, es ist kalt in der kleinen Küche, und es bleibt kalt im schummerigen Zimmer, ich habe mich auf den Boden vor den Heizlüfter gerollt und spüre deutlich dessen unsichtbaren Heiligenschein. die Hitze strahlt über meine Füße, aber schon auf Kniehöhe reicht sie kaum noch aus, ich weiß nicht wie er es am Schreibtisch aushält. Ich zerre die Decke vom Bett und nehme noch einen Schluck kalten und deswegen nahezu geschmacksneutralen Rotwein. Ich mag den kühlen Luftzug in meinem Gesicht, und den beruhigen Ton seiner Hände auf der Tastatur, während wir Pläne schmieden.
Die andere Welt, draußen, ist momentan von der Dunkelheit verschluckt.

Er sagt:
Warum.
Warum brauchst du die Unabhängigkeit?

Nach einer Weile erfahren wir, dass die Schlange nur dem Aufzug gilt, und die Leute gar nicht notwendigerweise in die selbe Bar gehen wollen.
Auch um diese Zeit ist die Straße voll mit Passanten, und ich versuche etwas abseits zu stehen, um nicht ständig erneut den vorbeischlendernden Grüppchen ausweichen zu müssen. Alle scheinen leicht angetrunken zu sein, oder haben zumindest einen Ausdruck von Euphorie, Vorfreude auf etwas, was die Nacht ihnen bringen könnte im Klang ihrer Stimmen und in der Leichtigkeit ihrer Schritte. Das Mädchen mit dem nie endenden Lächeln redet weiter auf ihn ein, und irgendwann sind wir tatsächlich in den Aufzug gequetscht, der seelenruhig und leise nach oben fährt und Stockwerk um Stockwerk leerer wird.
9. Stock: Ein Flur, der durch einen unterschwelligen Geruch und die nicht so wirklich rechtwinkligen Ecken eine plötzliche und deutliche Erinnerung an die Wohnung meiner Großeltern wachruft, und eine enge Treppe, die wieder ein paar Stufen nach unten führt. Wo sind all die Menschen hin? Ein ausdrucksloser Kellner führt uns um ein paar Ecken, beiderseits Trennwände aus dunklem Holz, und hält uns die Tür zu einem Separee auf. Die anderen sitzen schon da.

Er sagt:
Ich vertraue auf meine Fähigkeit zu vergessen. Die Entscheidung, was unwichtig ist und was wichtig, was erinnernswert, brauche ich gar nicht zu treffen, die Erinnerung sortiert für mich.

Ich kann mich selber beobachten bei meinem Versuch möglichst unsichtbar zu sein. Wie ich mich steif an die Rückenlehne presse, die Anstrengung hinter meinem Lächeln nur ungenügend von Zigarettenrauch verschleiert. Gefangen an diesem Platz in der Mitte, keinerlei Deckung.
Die Gruppe rechts tuschelt und lacht, aus den Augenwinkeln sehe ich einander zugeneigte Gestalten.
Gegenüber das Pärchen. So wie ich haben sie einen gewissen Abstand zu den Anderen, ich betrachte sie, sie sind beide sehr schön, wirken versunken, ihre Hände schweben über den Tisch, wenn sie sich die Schalen mit Essen hin und her reichen und an den Cocktails nippen.
Ab und zu geht die Tür auf und der Kellner bringt ein weiteres Tablett voller Gläser, während ich sie weiterreiche fühle ich mich kurzfristig angenehm unauffällig und wünsche es könnte so bleiben.
Manchmal plötzlich, ein Wort, ein Ruf, an mich gerichtet. Ich zucke zusammen, und bin mir nicht sicher ob es tatsächlich nur innerlich ist. Ein Haufen erwartungsvoller Gesichter, Namen, die ich mir nicht merken kann. Eine unverständliche Frage, ich ziehe die Schultern und die Mundwinkel hoch, freundlich, höflich, mein eigenes Lachen klingt unecht und entfernt in meinen Ohren.

Er sitzt rechts von mir, ins Gespräch vertieft, über seine Schulter kann ich sehen wie das unermüdlich weiterlächelnde Mädchen ein Bier nach dem anderen leert und Fragen stellt. ihre Freundin schaut skeptisch und hat die Arme verschränkt, vielleicht ist sie nur gelangweilt.

Er sagt:
Ich mag dich so, weil es dir vollkommen unmöglich ist, dich zu verstellen.

Meine Haut ist blass und trocken. Wenn man durch die schmalen Straßen geht, -sauberer Asphalt, anstelle von Bürgersteigen nur ordentlich mit weißen Linien abgegrenzte Seitenstreifen, dichtgedrängte kleine Häuser und über einem ein undurchdringliches Wirrwarr aus Kabelsträngen- fühlt es sich fast an wie ein Sommerabend, vielleicht sehr weit im Süden.
Der Himmel ist tiefblau, in der ferne noch ein bisschen orange, hinten, bei dem Haufen Wolkenkratzer. Auch hier, mitten in der Großstadt überall diese Pflanzen. Kleine in Kübeln und Töpfen, vor Einfahrten und neben grauen Wänden, und große, seltsame Bäume, manchmal palmenähnlich, die ich nicht erkenne.
Doch da ist auch überall und ständig diese Kälte, der man nicht entkommen kann. Meine Hände sind dagegen machtlos und werden gar nicht mehr warm, ich spüre wie die Kälte die Ärmel meiner Jacke immer weiter hinaufkriecht, ich spüre: die Sommerabendstadt ist nicht echt.

Ich könnte umkehren und zurückgehen. Ich bleibe stehen, lasse die Kälte weiterkriechen. Es ist ganz still, mein Atem ist alleine sichtbar in der unwirklichen Luft. Etwas, das er vergißt, das er beschlossen hat zu vergessen:
Auch ohne mich zu verstellen habe Ich durchaus die Möglichkeit mich zu verstecken.
Vielleicht werde ich auch trotz der steifgefrorenen Hände noch eine Weile weitergehen.