dagmar weiss

DIE HALDE

Es ist sehr ruhig und angenehm leer außerhalb der Stadt, ich vermisse den Lärm und die Menschen nicht.
Der Sommer ist schon relativ alt, aber noch keinesfalls vorbei, die überlangen Tage sind eine ganze Weile her, aber nur, nachdem es dunkel geworden ist, muss man jetzt manchmal eine dünne Jacke überziehen, das weiße Sonnenlicht füllt immer noch langgestreckte Mittage und lässt das Wasser einladend glitzern.
Nach ein paar Tagen ist es mir trotzdem etwas eintönig geworden, wieder am sich ewig gleichbleibend windenden Fluss entlang zu streunen, also bin ich an einer etwas steileren, bewaldeten Uferstelle einfach abgebogen und bin einem sandigen Pfad gefolgt. Der Pfad schlängelt sich ziemlich lange - mal bedächtig, mal sehr steil - immer weiter bergauf, bis er sich schließlich nur noch sanft auf und ab wellt. Dort wird der Weg breiter und gepflegter; der frische Kies knirscht unter den Schritten. Man durchquert eine Weile ein Wohngebiet, jedenfalls kann man rechts und links zwischen den Bäumen hier und da Häuser oder Zäune erkennen, bis der Weg abrupt auf eine Autostraße stößt. Jenseits der Straße gelangt man schließlich in wilden, urwüchsigen Wald. Der Pfad führt nahezu wahllos hin und her und auf und ab, verzweigt sich unzählig und läuft wieder zusammen. Der Boden federt und schluckt die Geräusche der Schritte.

Hinter einer Anhöhe mit Birken und verstreuten Felsbrocken hat mich eine mit dunklen Tannen dicht bewachsene Senke verschluckt. Ohne Richtungssinn bin ich einfach dem Gold entgegengelaufen, das aus dem Abendhimmel durch die dunklen Tannennadeln gesickert ist und habe ganz hinten am Waldende die Halde entdeckt.
Obwohl die Tannen dort weniger dicht stehen und es wieder heller ist, wird die Luft schon meterweit vorher plötzlich um einiges kühler, wie eine erste Warnung, bevor man ein Schild mit der Aufschrift "Achtung, Bauarbeiten!" erreicht. Auf den ersten Blick kann man durchaus meinen Hügel aus Geröll, Sand oder Schutt vor sich zu haben, eine ehemalige Baustelle wie die eines verworfenen Bauvorhabens, der brache Baugrund von Arbeitern, Fahrtzeugen und Maschinen schon lange verlassen und vergessen.
Aber das ist es nicht.
Der massive Aufwurf, der die Lichtung in alle Richtungen füllt und dessen Ausläufer sich zwischen die letzten Bäume drängen, besteht aus Schnee. Ein meterhoher Schneeblock, vom Wind mit einer Schicht Staub und Erde überzogen, nur hier und da kann ich das Weiß darunter erahnen. Ich stehe davor und atme flach und lautlos, wie um zu vermeiden, entdeckt zu werden.

Im Winter wird der Schnee aus der Stadt transportiert.
Tag für Tag schaufeln Bagger ihn überall zu langen Dünen auf den Plätzen und am Straßenrand auf, dann wird er des Nachts, wenn die Straßen leer sind, im fahlen Licht der Straßenlaternen auf schwere Lastwagen verladen und weggebracht. Das gedämpfte Dröhnen der kraftvollen Motoren, das dumpfe Poltern des Schnees auf die Ladefläche, das Knirschen der breiten Reifen unter schwerer Ladung auf der festgefahrenen Schneeschicht der Straßen sind die mir vertrauten Geräusche der Winternächte. Ein Laster nach dem anderen fährt voll beladen stadtauswärts.
Jeder weiß, dass der Schnee abtransportiert wird, aber niemand spricht darüber. Man weiß auch, dass es irgendwo die Halden gibt, aber wohin der Schnee gebracht wird, fragt man für gewöhnlich nicht - warum auch. Bevor es Morgen wird, sind die zusammengeschobenen Schneeberge auf dem Gehsteig verschwunden, leere Lastwagen donnern auf den Zufahrtsstraßen in Richtung Zentrum, die Motoren dröhnen dann heller, unbeschwerter. Wenn die ersten Frühaufsteher zur Arbeit gehen, stehen die Laster schon wieder bereit, neben der nächsten Schneedüne, und warten unbeachtet auf die Nacht.

Die Halde ist auch jetzt noch mehrere Meter hoch. Im Laufe des Frühlings sind die obersten Schichten weggetaut, das einsinkende Schmelzwasser und das Eigengewicht des Schnees verhärten die Reste zu immer festerem, dreckigem Eis.
Der Schnee liegt als dicke Kruste auf der Lichtung und wird dort bleiben, festgesetzt. Von Tag zu Tag wird es nun immer kühler werden, bis zum Winter. Dann wird sich eines Morgens eine zarte neue Schicht Schnee sanft auf die Dreckkruste gelegt haben, die Halde wird wieder weiß und sauber leuchten und unbeirrbar weiter wachsen und sich ausbreiten.
Ich würde mich gerne abwenden, aber ich kann nicht mehr zurück zum Fluss als wäre nichts, der ungetrübte Sommer dort scheint mir verlogen.

Ich trete dicht an die Halde heran und fange an mit meiner Hand den Dreck wegzukratzen. Der Schnee ist hart und scharfkantig und Dreck und Sand haben sich tief eingefressen. Es dauert, aber es entsteht eine offene Stelle, die dumpf strahlendes Weiß entblößt. Mit zerschürften Fingern arbeite ich weiter, bis ich einen von allen Seiten schneeweißen, groben Brocken herausbrechen kann. Er füllt etwas mehr als meine Hand, wenn ich ihn fest umgreife. Ich halte den Arm etwas steif von mir und beginne zurückzugehen, durch die dunklen Tannen und über die lichte Anhöhe. Als ich die Straße überquere, hinterlasse ich eine Spur Wassertropfen auf dem Asphalt. Der Kies unter meinen Schritten knirscht und meine Hand ist taub vor Kälte. Der Klumpen in ihr aber wird immer kleiner, glatter und durchsichtiger.
Als ich wieder am Fluss ankomme und die Wellen ruhig fließen sehe bleibe ich stehen. Ich öffne vorsichtig die steifen Finger und schaue hinunter. Meine Hand ist nass und rot und von dem Schneebrocken ist nichts übriggeblieben.